Heute am 19. März 2022 feiere ich den 100. Geburtstag meines geliebten ehemaligen Deutsch-, Philosophie- und Englischlehrers am neusprachlichen Mädchengymnasium und späteren Schulleiters am Ernst-Barlach-Gymnasium in Dinslaken: Dr. Hermann Heyder.

Vor über 5 Jahren, am 16. Januar 2017, habe ich ihn zum letzten Mal getroffen, kurz vor seinem 95. Geburtstag! Es war ein unvergesslicher Tag. Wir trafen uns in einem Restaurant am Niederrhein, zusammen mit seinen beiden Kindern, Dorothee und Joachim, die sich um ihn nach dem plötzlichen Tod seiner Frau kümmerten. Natürlich war auch Senta dabei, und wie ich es immer mache, bat ich die Bedienung, ein Foto von uns zu machen.

Dieses Foto war dann das allerletzte von Dr. Heyder, denn er starb zwei Monate später, nur fünf Tage nach seinem 95. Geburtstag. Unser Gespräch aber, unter vier Augen und bei einer guten Tasse Tee und leckerem Kuchen, drehte sich nicht um die Vergangenheit mit all den Ereignissen und Ärgernissen, mit den Glanzpunkten und schönen Erinnerungen – nein, es drehte sich ausschließlich um die Gegenwart, um das Jetzt und Hier.

Und das machte dieses Gespräch so eindrucksvoll und für ewig unvergesslich für mich. Als ich mich verabschiedete, kam mir nicht der Gedanke, es könnte das letzte Mal gewesen sein. Ich war einfach erfüllt von dieser Begegnung.

Wieder zu Hause im hohen Norden angekommen, vergaß ich ganz, das Foto von unserem Treffen an ihn oder an seine Kinder zu senden. Erst als ich zwei Monate später von seinem Tod erfuhr, schickte ich dem Sohn das Foto, und es stellte sich heraus, dass es das allerletzte Foto von Dr. Heyder gewesen war.

Schade, ich hätte gerne seinen 100. Geburtstag mit ihm gefeiert. So werde ich heute alleine ein Glas Sekt auf sein wundervolles Leben und Schaffen trinken – und virtuell mit seiner Tochter und seinem Sohn anstoßen, mit denen mich inzwischen eine gute Freundschaft verbindet.

Dr. Heyder war als junger Mann im Krieg gewesen, als Flieger, hatte ein Kriegsabitur abgelegt und dann studiert. Wir Mädchen konnten ihn im Unterricht immer wieder auf seine Kriegserlebnisse ansprechen und so erzählte er uns viele Stunden lang davon. Manchmal kam er auch sehr spät oder gar nicht, weil er inzwischen Schulleiter geworden war.

Das Interessante für mich ist aber, dass ich gerade in Deutsch sehr gute Leistungen erbracht habe, auch später, im Studium, und heute in meinem Beruf als Autorin und Verlegerin. Englisch war nicht so mein Ding, aber das lag nicht an Herrn Dr. Heyder, sondern an der eigentümlichen Englischlehrerin, die ich sowohl in der Unterstufe als auch in der Oberstufe „genossen“ hatte.

Ich erinnere mich noch genau an unsere erste Englischstunde bei ihm in der Untertertia – er hatte ein kleines Liederbuch „It’s fun to sing“ in der Hand und stimmte das Lied „My Bonnie is over the ocean“ an. In der nächsten Englischstunde empfingen wir ihn singend, ich begleitete meine Mitschülerinnen auf der Gitarre. Und damit war eine Freundschaft fürs Leben begründet. Englisch lernten wir aber trotzdem! Und dazu viele schöne Lieder!

Als ich vor 5 Jahren mit Senta zu seiner Beerdigung gefahren war, und sie danach aus dem Auto in das Café holte, wo die Nachfeier stattfand, erklang auf der Straße das Lied „My Bonnie is over the ocean“. Das kann kein Zufall gewesen sein!

Dass ich heute wieder ohne jegliche Hemmung Englisch spreche und schreibe, sogar Bücher in englischer Sprache in meinem Verlag publiziere und auch freiwillig selber lese, liegt an dem Versprechen, das ich meinem alten Englischlehrer bei unserem letzten Treffen gegeben hatte.

Zu dieser Zeit publizierte ich den Roman eines Japaners, der in Texas lebte, auf Englisch und auf Deutsch. Und wir hatten eine Lesereise durch Deutschland geplant, für die Zeit kurz vor meinem 65. Geburtstag im Mai. Und ich versprach meinem alten Englischlehrer, dass ich wieder Englisch sprechen und schreiben würde. Ich bin sicher, dass er es „von oben“ gesehen und gehört hat.

1971 hatte ich mein Abitur gemacht. Unser Jahrgang war der erste, der keine feierliche Abiturfeier mit Chor und Orchester und vielen Reden hatte, an der die Abiturientinnen in schwarzen Kostümen teilnahmen. Nein, unser 1971er Jahrgang war der erste, der das Abitur mit einem Sektfrühstück feierte – alle Abiturientinnen kamen in bunten Sommerkleidern, es war damals gerade die Midimode angesagt. Ja, das muss so ungefähr im Mai gewesen sein, kurz vor meinem 19. Geburtstag. Reden gab es gar nicht!

Herr Dr. Heyder sprach mit mir und meiner Mutter darüber, dass er mich sobald wie möglich als Musiklehrerin an diese Schule zurückholen wollte. Das tat er dann, als ich gerade 22 Jahre alt war, Studentin im 4. oder 5. Semester.

Dieser wundervolle Mensch, Herr Dr. Heyder, hat mich in meiner späteren Berufslaufbahn sehr gefördert, vor allem aber war er eins: gelassen. Ich habe es selten erlebt, dass er sich mal so richtig aufgeregt hatte (ist ab und zu mal vorgekommen). Wenn sich ein Lehrer bei ihm über etwas beschwerte (meist über einen Kollegen), dann schrieb er das auf einen winzigen Zettel, sagte, dass er sich darum kümmern würde und steckte den Zettel in eine der Taschen seines immer hellgrauen, gepflegten Anzuges.

Auf diese Weise hat er den Frieden in der Schule bewahrt. Auch wenn Eltern kamen, um sich zu beschweren, ging er ähnlich vor. Er hörte sich alles an, versprach, sich darum zu kümmern, und holte dann den betreffenden Lehrer dazu. Mir ist das einmal passiert, in meinem ersten Jahr als Mathematiklehrerin, als ich wohl ein wenig zu streng gewesen war. Nach dem gemeinsamen Gespräch haben sich die Eltern bei mir bedankt, und die Tochter schrieb in der nächsten Mathematikarbeit eine 2.

 

Im Dezember 1983 erfuhren wir, dass Herr Dr. Heyder sich am Ende des Schuljahres pensionieren lassen wollte. Wir planten spontan, als besondere Überraschung zum Abschiedskonzert eine Schallplatte zu produzieren: „Musik für dich“ war schon unsere zweite Schallplatte, die erste war im Oktober 1980 als Mitschnitt eines Schulkonzertes entstanden, nachdem Chor und Orchester erst ein Jahr unter meiner Leitung musiziert hatten. Danach erlebten Chor und Orchester einen großen Aufschwung, durch regelmäßige Konzerte in der eigenen Schulaula, und bei vielen außerschulischen Veranstaltungen leisteten wir einen wichtigen Beitrag zum kulturellen Geschehen in Dinslaken.

Diese schulmusikalische Arbeit wäre ohne Herrn Dr. Heyder niemals möglich gewesen. Er erzählte uns immer, dass er zweite Geige in seinem Schulorchester gespielt hatte, und so hatte er stets ein offenes Ohr für unsere Probleme. Er stand uns mit Rat und Tat zur Seite, lehnte neue Ideen niemals ab – und war ein begeisterter Zuhörer. So enthielt unsere Schallplatte die schönsten Stücke unserer Konzerte und eins der Lieder, die ich bei Dr. Heyder im Englischunterricht gelernt hatte: „Old folks at home“.

Natürlich habe ich mir Gedanken gemacht, warum mein geliebter Lehrer wenige Tage nach seinem 95. Geburtstag gestorben ist. Genaueres habe ich nie erfahren. Aber er hatte mir gesagt, dass es nicht schön sei, nichts mehr zu tun zu haben. Und ich hatte ihm vorgeschlagen, doch endlich ein Buch mit seinen Erinnerungen an unsere Schule zu schreiben. Er sagte, er hätte schon etwas aufgeschrieben und seinem Sohn übergeben, aber das dürfte erst nach seinem Tod veröffentlicht werden.

Wichtiger war und ist mir die Antwort auf die Frage, warum er in „relativer Gesundheit“ 95 Jahre alt geworden ist, obwohl er den 2. Weltkrieg als junger Mann erleben musste. Er war gelassen, stets optimistisch, und immer sehr humorvoll. Er mochte keine Konflikte und zog weg aus unserem Ort, nachdem er pensioniert worden war. Denn unser Gymnasium wurde kurz darauf in eine Gesamtschule umgewandelt, und er wollte nicht in die schlimmen Querelen und politischen Diskussionen hineingezogen werden, Er zog in einen Ort am Niederrhein mit historischer Bausubstanz, nah genug an unserem Schulort, um noch Kontakte zu haben, aber weit genug weg, um nicht in alles hineingezogen zu werden.

Auch ich habe inzwischen Gelassenheit gelernt – vor allem in den zwei letzten Jahren seit Beginn der Coronakrise. Auch ich feiere in diesem Jahr einen „runden“ Geburtstag, denn ich bin 30 Jahre jünger als mein Lehrer – zu seinem 60. Geburtstag spielte ihm mein Schulorchester ein Ständchen, während ich mit meiner Klasse im Schullandheim an der Nordsee war. Als ich dann 60 wurde, erinnerten wir uns an diese Tage, er war inzwischen 90. Und er schrieb mir immer noch lange Briefe, zu Weihnachten, zum Geburtstag, und später dann zu jedem meiner Bücher.

Er prägte den Satz: „Sie gehen weiter Ihren Weg des Erfolgs mit Herz“, den ich heute mutig, optimistisch und mit dem Ziel, gesund und glücklich 100 zu werden, beschreite.

Ich habe viel gelernt von diesem Lehrer, Schulleiter und Chef, der wie ein Vater für mich war und auch am 30. März 2001 bei unserer Hochzeit zu Gast war.

Danke, lieber Herr Dr. Heyder – ich werde Sie nie vergessen – Sie sind immer in meinem Herzen, zusammen mit meiner geliebten Mutter, die im letzten Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, meinem Mann Hans Christian, der bereits seit über 8 Jahren tot ist, und meiner geliebten Seelenhündin Senta, die heute vor 6 Wochen gestorben ist.

In Dankbarkeit, Verehrung und Liebe

Ihre Beate Forsbach