Vor vier Wochen habe ich das Eröffnungskonzert des Schleswig-Holstein-Musikfestivals (SHMF) in Lübeck besucht. Drei Jahre lang hatte ich mich nicht mehr für diese Konzerte interessiert. Als ich 2010 mit meinem Mann nach Fehmarn zog, waren wir Förderer des SHMF geworden und bekamen wirklich gute Plätze für einen Rollstuhlfahrer und seine Begleitung. Das Eröffnungs- und das Abschlusskonzert standen natürlich auf unserem Programm, auch im zweiten Jahr. Ich hatte da nur gesehen, dass die Peer-Gynt-Suite von Edvard Grieg gespielt werden sollte – eine angenehme unterhaltende Musik. Denn meinem Mann ging es 2012 nicht mehr so besonders, schon die Fahrt nach Lübeck war für ihn und für mich mit viel Stress verbunden.
Angekommen im überfüllten Foyer der Musik- und Kongresshalle rief mein Mann, der solche Menschenansammlungen nicht mehr gewohnt war: „Ich kann nicht mehr“. Das machte er öfter, und es war eigentlich nicht so schlimm. Aber es kamen sofort Leute, die uns helfen wollten, das war mir unangenehm. Dann sah ich, dass das Konzert vom Rundfunk aufgezeichnet werden sollte und keine Pause vorgesehen war. Die üblichen Rollstuhlplätze waren etwas verändert, und ich sprach mit einem Saaldiener, damit er mir einen Stuhl neben den Rollstuhl meines Mannes stellte. Als das Konzert begann, merkte ich, warum neben dem Sinfonieorchester auch ein großer Chor und der Schauspieler Klaus Maria Brandauer auf der Bühne standen: Peer Gynt wurde szenisch aufgeführt – wir aber hatten keine Ahnung von der Handlung des Schauspiels. Mein Mann fragte immer wieder, was da los sei, denn er verstand es nicht, was gesagt und gesungen wurde. Ich auch nicht, genau wie viele andere Konzertbesucher – aber die sagten es nicht, jedenfalls nicht laut.
Irgendwann verließ ich mit meinem Mann den Saal, schob wütend seinen Rollstuhl zum Auto, stellte Musik von meinem iPhone an und fuhr los (später bekam ich ein „Knöllchen“ für zu schnelles Fahren). Ich sagte nichts, denn mein Mann konnte ja nichts dafür – und als wir nach einigen Kilometern links neben der Autobahn einen schönen Sonnenuntergang sahen, sagte ich: „Weißt Du, wenn wir jetzt noch in dem (bl …) Konzert wären, hätten wir nie diesen wundervollen Sonnenuntergang erlebt.“ Zuhause angekommen warf ich alle anderen Konzertkarten für diesen Sommer in den Papierkorb. Später ging es meinem Mann schlechter und wir besuchten keine Konzerte mehr.
Die Prospekte vom SHMF bekam ich weiterhin, aber schaute sie nie mehr an. Im Frühjahr 2014, kurz nach dem Tod meines Mannes, hatte ich ein Passionskonzert mit dem NDR-Orchester und NDR-Chor in Lübeck besucht und eigentlich keine große Freude daran gehabt, obwohl das Rollstuhlschieben und der Transport mit dem Auto nun nicht mehr notwendig waren. Mein Mann fehlte mir einfach bei diesem Konzertbesuch.
In diesem Jahr aber hörte ich eines Tages im Radio ein Interview mit dem Dirigenten des NDR-Orchesters, Thomas Hengelbrock, der über das bevorstehende Eröffnungskonzert berichtete. Noch während des Interviews kaufte ich mir eine Karte im Internet, und dann auch gleich noch eine für das Abschlusskonzert in Kiel. Guter Dinge fuhr ich am 12. Juli nach Lübeck und genoss die Atmosphäre im Foyer mit ganz viel Prominenz und Rundfunkstudio.
Den ersten Stich spürte ich, als ich eine Frau sah, die ihren Mann im Rollstuhl durch die Menge schob. Meinen Platz im Konzertsaal hatte ich bewusst so gewählt, dass er entfernt von der Stelle war, wo wir damals gesessen hatten. Ich hatte einen wundervollen Blick auf die Bühne und den Flügel – denn es sollte ein Klavierkonzert von Mozart gegeben werden. Nur ein dicker Mann in der Reihe vor mir irritierte mich etwas, über den ich später nach der Pause noch ärgerlich wurde, weil er mit Brötchen und Getränk hereinkam und dann während der wundervollen Sinfonie von Brahms genüsslich mampfte und trank.
Noch viel mehr irritierte mich aber, dass ein paar Reihen vor mir auf der linken Seite mehrere Rollstuhlfahrer saßen – und ich erinnerte mich, dass wir dort Abonnementsplätze gehabt hatten, bevor wir dann keine Konzerte mehr besuchten.
Es war ein Sinfoniekonzert mit einer jungen Pianistin gewesen, die ein Klavierkonzert spielen wollte. Als alles still war im Saal und sie mit dem Dirigenten nach vorne ging, sagte mein Mann laut und deutlich: „Ich kann nicht mehr“. Ich war das ja gewohnt, und eigentlich wäre es auch nicht schlimm gewesen, wenn nicht eine Frau hinter uns immer wieder gesagt hätte, wir sollten doch die Sanitäter holen, wenn es meinem Mann so schlecht ging. Er aber brauchte eigentlich nur Beethoven. Das verstand die besorgte Frau aber nicht.
All das ging mir an diesem Abend, als ich das diesjährige Eröffnungskonzert hörte, durch den Kopf. Lauter unangenehme Erinnerungen, die sich auch mit einem schlechten Gewissen mischten – denn mein Mann konnte doch nun wirklich nichts dafür, dass er krank gewesen war. So gerne hatten wir immer zusammen Konzerte besucht.
Ich erkannte, dass ich durch den tiefen Schmerz der Erinnerung gehen musste, dass ich negative Gedanken zurückweisen und durch positive Gedanken ersetzen musste, damit ich das Konzert mit dem wundervollen Programm endlich genießen konnte. Ich glaube, es war dann schließlich im zweiten Satz der Brahms-Sinfonie so weit, dass ich das Glück dieser unglaublich schönen Musik empfinden konnte und ganz entspannt war. Ich konzentrierte mich auf die positiven Erinnerungen, denn ich hatte mit meinem Mann zusammen unzählige schöne Konzerte an den ganz großen Stätten des Musiklebens besucht.
Es war ein wundervolles Konzert und ich freue mich schon auf das Abschlusskonzert in Kiel, bei dem das Requiem von Verdi aufgeführt wird.
Später schrieb ich in einer Mail:
Ich glaube allerdings, dass Glück ohne Trauer gar nicht sein kann – nur wer auch die Schattenseiten erlebt hat, kann wirkliches Glück empfinden.
Ja, es ist wohl so: Glück wird erst durch Leid zum Glück – und es ist notwendig, dass wir durch den Schmerz gehen, weil wir dann das Leben viel besser annehmen und uns gelassener auf den Moment einlassen können.
Seitdem suche ich immer wieder Orte auf, an denen ich mit meinem Mann glücklich gewesen bin. Ich bin sehr dankbar, dass ich mit ihm eine solch erfüllte Zeit und all das Schöne erleben durfte. Ich erfahre vieles auf eine neue, aber auch sehr schöne Art und Weise. Das zeigt, dass man selbst nach Leid, Schmerz und Trauer eine neue gute und glückliche Zeit erleben kann.