IMG_8907In den letzten Jahren habe ich immer in der Adventszeit auf dem Flügel gespielt – meistens war es Weihnachtsmusik, aber immer auch gerne meine Lieblingsstücke von Brahms, Schubert und Schumann. Das Schöne ist ja, dass ich hier in meinem Haus auf dem Lande zu jeder Tages- und Nachtzeit klavierspielen kann – ganz anders als in den vorherigen Wohnungen, wo ich immer Rücksicht auf Mittags- und Nachtruhe nehmen musste, wo die Nachbarn teilweise alles mithören konnten und ich entsprechend eingeschränkt war – Üben ist nicht so toll anzuhören, also spielte ich immer wieder die Stücke, die ich (noch) ganz gut konnte aus meinem Klavierunterricht, der mittlerweile über 40 Jahre zurück liegt.

IMG_8906In den letzten Monaten hörte ich immer mehr Klaviermusik, oft über das Internet. Denn ein Facebookfreund schickte immer wieder interessante Aufnahmen von bekannten und (mir) unbekannten Pianisten und Pianistinnen. Besonders die Nocturnes von Chopin hatten es uns angetan, ich bekam eine wundervolle CD von der ungarischen Pianistin Livia Rev, die seit Jahren in Frankreich lebt und noch mit über 94 Jahren grandiose Konzerte und Masterclasses gegeben hat – alles heute noch hörbar über Youtube.

Das Impromptu As-Dur op. posth. 142,2 von Franz Schubert war seit vielen Jahren mein Lieblingsstück – ich hatte es zur Begrüßung unseres neuen Flügels am 19.12.2004 in unserer Bamberger Wohnung gespielt, und zuvor auch zum Abschied von meinem schönen Klavier.

FlugelDer Flügel war der Mittelpunkt unseres Bibliothekszimmers in der großen Bamberger Jugendstilwohnung. Mein Mann sagte immer, ich hätte ihm den Flügel zum Geburtstag geschenkt. Er wurde an seinem Geburtstag geliefert – aber gekauft hatten wir ihn gemeinsam. IMG_7447Am 12. November 2010 habe ich das Impromptu von Schubert zur Einweihung des Flügels in unserem Haus in Neujellingsdorf auf Fehmarn gespielt – die Umzugsleute waren ganz fasziniert. Es ist ja ein großes Abenteuer, ein solch kostbares Instrument im Umzugswagen zu transportieren, von Bamberg auf die Insel Fehmarn. Der größte Moment war für mich, als unser neues Haus zum ersten Male mit Musik erfüllt war, Musik von dem Flügel.

Doch zurück in die nähere Gegenwart: Im Februar 2014, kurz nach dem Tod meines Mannes, wollte ich den Flügel verkaufen. Zu groß war der Schmerz, dass mein Mann dieses wundervolle Instrument nicht mehr nutzen konnte, und dass ich nicht darauf gespielt hatte, als wir auf den Krankenwagen warteten, der meinen Mann in die Klinik brachte, wo er zwei Tage später verstarb. In einer Nacht führte ich ein „virtuelles Gespräch“ mit einem Facebookfreund. Er überzeugte mich damals, dass ich unseren schönen Flügel behalten und ihn fortan mehr und mehr zum Klingen bringen sollte!

Irgendwann begann ich wieder, Klavier zu spielen, all die schönen Stücke von Brahms, Schubert, Schumann, Chopin, die ich früher mal gut gekonnt hatte. Dazu viel Jazz und leichtere moderne Stücke. Und ich hörte immer mehr Klaviermusik, vor allem solche, die ich niemals spielen könnte, wie ich dachte. Ich merkte, wie meine Begeisterung wuchs. Über Facebook bekam ich auch Kontakt mit einigen Pianisten, und so allmählich kristallisierte sich bei mir ein ganz bestimmtes Klangideal heraus, nicht nur, aber auch durch den Besuch eines Konzertes mit dem fantastischen Pianisten Amir Katz.

IMG_8936Senta mag übrigens auch gerne zuhören – am liebsten Chopin. Ich stellte fest, wie schön die Musik in meinem Hause klingt – und bedauerte es, dass ich nicht mehr Musik gespielt hatte, als mein Mann noch lebte. Denn er war ein ganz großer Liebhaber und Kenner von Klaviermusik, hatte alle großen Pianisten seiner Zeit im Konzert gehört und es immer bedauert, dass er als Kind und Jugendlicher nicht genug Geld gehabt hatte, um Klavier zu lernen.

IMG_8917Am ersten Adventssonntag meinte ein Bekannter, ich könnte doch mal meinen Flügel stimmen lassen und wieder Klavierunterricht nehmen. Das erste war klar, ich hatte es im vorigen Jahr ausgelassen – aber ich wäre im Leben nie auf die Idee gekommen, wieder Klavierunterricht zu nehmen. Am Abend dann hörte ich eine Aufnahme von dem berühmten Liebestraum von Liszt – mit der großartigen Pianistin Livia Rev, die das Stück im Alter von 97 Jahren spielte. Im ersten Moment sagte ich, dass ist für mich nur ein Stück zum Zuhören, aber dann lud ich mir die Noten aus dem Internet herunter und stellte fest, dass es durchaus „machbar“ wäre.

Am nächsten Morgen telefonierte ich mit der Klavierstimmerin und sie empfahl mir einen Klavierlehrer in Lübeck. Ich hatte noch andere Empfehlungen, aber meine Intuition sagte mir, dass dies vielleicht der Richtige wäre. Ich rief ihn an und vereinbarte den ersten Termin am 11. Dezember 2015. Am Abend davor kopierte ich aus meinem alten Studienbuch die Protokolle der Prüfungen an der Musikhochschule Köln aus den Jahren 1973-1975. Violine war mein Hauptinstrument gewesen, und Klavier mein Nebeninstrument. Das war damals so im Schulmusikstudium, schließlich hatte ich Geige ja schon viel länger gespielt. Ich bekam Unterricht bei den Zwillingen Werner und Wilhelm Neuhaus und wurde auch als „Nebenfach Klavier“-Pianistin ziemlich gut. Die Violine wollte ich schon vor einigen Monaten loslassen, ich könnte das Niveau aus dem Studium niemals mehr erreichen, befand ich. Und ich hatte keine Lust, in irgendwelchen Liebhaberorchestern oder Feierabend-Streichquartetten zu spielen.

Aber Klavierspielen, das reizte mich ganz stark, denn damit kann ich selber Musik machen, ganz allein, und zu jeder Tages- und Nachtzeit. Vom „Liebestraum“ habe ich mir die Noten bestellt, und auch von den Chopin Nocturnes, die ich inzwischen ganz besonders liebe. Außerdem habe ich die „Etüden im ungarischen Stil“ von Michel Sogny entdeckt, die mir auf Anhieb sehr gut gefielen. In ein Stück hatte ich mich verliebt, als ich es eines Morgens im Bademantel spielte. Eine kleine Melodie, die sich nach und nach herauskristallisierte und mein Herz erfüllte.

Ich packte also am Vorabend der ersten Klavierstunde alle Noten in meinen Aktenkoffer, die ich schon gespielt hatte oder noch spielen wollte. Dazu ein Notizbuch, um alles Wichtige darin zu vermerken.

IMG_0647Der erste Gang zum Klavierlehrer war insofern recht erfreulich, weil der Weg vom Parkhaus am Café Niederegger vorbeiführte, und an einem Musikgeschäft, das ich nach der Klavierstunde gleich besuchte. Denn eine kleine Reise von Fehmarn nach Lübeck ist schon etwas Besonderes für mich, und ich freute mich, dass ich daraus ein richtiges „Event“ machen konnte.

Beim Klavierlehrer war es erfreulich. Ich erzählte, warum ich nun nach über 40 Jahren seit meinem Studium wieder Klavierunterricht nehmen wollte – und er konnte es nachvollziehen. Ziemlich bald kamen wir auf das Thema, was mich am meisten interessierte: Die Klangbildung am Klavier, also wie ich meine altbekannten und auch neue Stücke einfach schöner spielen könnte. Auch die mentale Kraft beim Klavierspielen finde ich wichtig und interessant, und auch dafür war der Klavierlehrer aufgeschlossen.

Die Stücke von Michel Sogny sagten ihm sehr zu, er war erstaunt, dass ich die erste Etüde nach wenigen Tagen schon so gut spielen konnte. Auch an meinem Lieblingsstück, dem Impromptu von Schubert, haben wir kurz gearbeitet, uns aber dann einfach der Klangbildung gewidmet. Die Stunde war im Nu herum und wir haben uns für die nächste Woche wieder verabredet.

Erstaunlich war für mich eine Erkenntnis, die ich beim Erzählen gewonnen hatte: Ich habe als Kind immer Klavier spielen wollen, aber es war nicht genug Geld für ein Klavier da. Somit habe ich bei Freundinnen, die Klavierunterricht hatten, immer geübt und mir vieles selber beigebracht. Mit 14 bekam ich das erste Klavier, erst mit 16 dann Klavierunterricht, weil ich ja das Ziel hatte, Schulmusik zu studieren.

Da mein Vater eine Geige hatte, musste ich mit 10 Jahren Geige lernen. Bei einem wirklich schlechten Lehrer, der mir im Laufe der Jahre alle Motivation austrieb. Kurz bevor ich das Geigespielen ganz aufgeben wollte, wechselte ich zum Konservatorium, bekam eine neue Geige und lernte neue Stücke zu spielen. Viel zu schwere Stücke, der Lehrer war ein Musikant, kein Pädagoge, und menschlich leider auf tiefstem Niveau, was mir erst heute wirklich bewusst geworden ist.

All das hat möglicherweise dazu geführt, dass ich die Geige loslassen will. Meine Klavierlehrerin am Konservatorium hatte mich gut auf die Aufnahmeprüfung zur Musikhochschule vorbereitet. Sie hatte immer interessante Stücke mit mir gespielt, oft auch vierhändig, denn mein musikalischer Anspruch lag damals weit über meinem technischen Können.

IMG_0641 Meine erste Klavierstunde nach über 40 Jahren habe ich im Café Niederegger gefeiert. Ich schrieb alles Wichtige in mein neues Notizbuch und genoss die Köstlichkeiten des Cafés.

Auch meine musikalischen Ziele habe ich in mein Notizbuch geschrieben:

IMG_8953Ich möchte die alten Stücke von Brahms, Schubert, Schumann und Chopin wieder wunderschön spielen können. Die ungarischen Etüden von Michel Sogny möchte ich nach und nach erarbeiten. Ich möchte mindestens drei Nocturnes von Chopin spielen können und eines Tages auch den Liebestraum von Liszt. Und dann noch: die Mondscheinsonate von Beethoven, und die Rhapsodie G-moll von Brahms – das sind ganz alte Träume.

Und überhaupt, so erscheint es mir heute, ist das Klavierspielen ein ganz alter Traum von mir. Ich bin sehr dankbar für die Anregung, Klavierunterricht zu nehmen. Denn es war ein Traum, von dem ich gar nicht wusste, dass ich ihn hatte.

Gestern abend hörte ich in einem Konzert den folgenden Spruch:

„Folge immer der Melodie deines Herzens,
denn sie weiß, was das Richtige für dich ist.“

Er erinnerte mich an einen meiner eigenen Aussprüche:

„Durch das Schreiben kommen wir der Melodie des eigenen Lebens auf die Spur, beim Schreiben hören wir die Stimme unseres Herzens und entwickeln Wegweiser, um unser Leben so zu leben, wie wir es haben möchten.“

Dieses Zitat stammt aus meinem Blog „Lebe die Melodie deines Lebens“ vom 7. April 2012, den ich im September 2015 noch einmal gepostet habe.

Es ist für mich wie ein Weihnachtswunder, dass ich das Klavierspielen wieder für mich entdeckt habe.

Rose